Dem Nägele sein Wägele

Jeder Mensch zieht ihn. Seinen persönlichen Lebenswagen. Auch ich. Manchmal ziehe ich kraftvoll. Ich bestimme Tempo und Richtung. Doch manchmal schiebt der Wagen auch mich. Dann habe ich die Kontrolle verloren. Dann bin nicht mehr Herr meines Lebens. Dann bin nicht mehr Hüter meiner Seele.

Mein Lebenswagen ist vollgeladen. Immer. Kinder, Eltern, Freunde, Hobbies, Arbeit, Sport, Freizeit. Vieles davon ist fest verwachsen. Mit mir und mit meinem Leben. Untrennbar – unabladbar. Vieles davon bringt Lebensfreude – Lebenslust. Manches drückt mich. Er-drückt mich. Macht mir das Leben schwer – macht Lebens-müde. Alternativlose Lebenslast?

„Und – läuft bei Dir?“ – frage ich meinen Sohn. „Klar“, sagt er, „rückwärts zwar und bergab – aber läuft“. Ich muss lachen. Auch weil in seiner Antwort eine große Wahrheit liegt. Denn – so habe ich den Eindruck – wir legen großen Wert darauf, immer in Bewegung zu sein. Und wenn es kein aktives Ziehen ist, dann wollen wir doch wenigstens geschoben werden. Von unseren Terminen, Veranstaltungen oder sonstige Verpflichtungen. Alles scheint besser als Stillstand. Denn Stillstand ist Rückschritt…

Stillstand ist Rückschritt? Was in unserer Sprache negativ belegt ist, ist mir inzwischen zu einem wertvollen Gut geworden. Zweimal im Jahr begehe ich deshalb meinen persönlichen ‚Wägelestag‘. Ich werde still – ich stehe still – und trete ganz leise und bewusst einen Schritt zurück. Meine Perspektive ändert sich. Mein Blickfeld erweitert sich.

Ich betrachte meinen Lebenswagen. Lade ab was mir zu Last geworden ist – räume auf. Das ist Arbeit. Stille, schwere, harte Arbeit. Denn es braucht Mut loszulassen. Es braucht Kraft, den Verlust des Losgelassenen auszuhalten. Und es braucht Ausdauer das Loslassen im Alltag durchzutragen. Das gelingt auch mir nicht immer! Denn auch bei mir gibt es Dinge, die es sich – eigentlich längst abgeladen – ’schwuppdiwupp‘ wieder bequem machen auf meinem Lebenswagen.

Und doch merke ich nach jedem Wägelestag. Mein ‚Wägele‘ ist leichter. Es lässt sich besser ziehen und lenken. Es drückt nicht mehr so sehr – es schiebt nicht mehr so sehr. Und – es bietet wieder Platz. Zum Atmen und zu neuer Freiheit.